Schwindel
Schwindel (Vertigo): Gleichgewichtsstörung, bei der der Betroffene fälschlicherweise meint, die Umgebung bewege sich, oft verbunden mit Übelkeit und Erbrechen. Schwindel kann zahlreiche Ursachen haben, v. a. Erkrankungen des Innenohrs, neurologische oder Gefäßerkrankungen oder psychische Störungen.
Schwindel gehört zu den Gesundheitsproblemen, die zwar nicht altersbedingt sind, aber mit zunehmendem Alter häufiger werden: Klagen schätzungsweise 10 % aller Patienten einer Hausarztpraxis über Schwindel, so sind es bei den über 65-Jährigen bis zu 30 % und bei hochbetagten Pflegeheimbewohnern sogar bis zu 70 %. Typischerweise kann der Schwindel bei ihnen nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden, sondern ist durch ein Zusammenspiel verschiedener ungünstiger Einflüsse bedingt, z. B. schwankender Blutdruck plus schlechtes Sehen plus Nervenschäden (z. B. bei Zuckerkrankheit) plus depressive Verstimmung plus eine Vielzahl eingenommener Medikamente.
Ältere Menschen mit Schwindel sind erheblich gefährdet zu stürzen und einen Knochenbruch zu erleiden. Gleichzeitig neigen sie mehr als Jüngere aus Angst vor einem Sturz dazu, ihre Aktivitäten auf ein Minimum zu reduzieren, was langfristig zur Immobilität mit all ihren Folgeschäden führen kann.
Die Erkrankung
Augen, Gleichgewichtsorgane und verschiedene Reizaufnehmer (Rezeptoren) in Muskeln, Gelenken und Haut leiten ständig Informationen über unsere Lage im Raum zum Gehirn weiter. Schwindel entsteht immer dann, wenn sich diese Informationen widersprechen, sodass das Gehirn kein stimmiges Bild erstellen kann. Begleitet wird Schwindel häufig von Übelkeit bis hin zu Erbrechen, Blässe und Schweißausbruch, da die an der Gleichgewichtsregulation beteiligten Nervenzellen im Gehirn mit denen zur Steuerung vegetativer Reaktionen verbunden sind.
Schwindel als solcher ist kein krankhaftes Phänomen. Jeder kennt das Kinderspiel, erst länger im Kreis gedreht und dann losgelassen zu werden. Schwindel, scheinbare Drehbewegungen der Umwelt und Taumeln sind dabei absolut normal und machen den Reiz des Spiels aus. Schwindel bei einfachem Drehen des Kopfs hingegen ist ein Krankheitszeichen.
Schwindelursachen und -formen. Die Ursache für Schwindel kann in allen an der Reizaufnahme und -verarbeitung beteiligten Strukturen liegen. Für die Ursachenfindung ist eine genaue Beschreibung des Schwindels unverzichtbar, denn „Schwindel“ ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Beschwerden. Aufschlüsse geben vor allem Art, Dauer, Auslöser und Begleitbeschwerden des Schwindels:
Drehschwindel kann meist sehr exakt beschrieben werden: Der Betroffene hat das Gefühl, seine Umgebung drehe sich um ihn wie in einem Karussell. Drehschwindel hat seine Ursache in aller Regel in einer Schädigung des Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Typisch hierfür sind plötzliche Drehschwindelattacken, die nach Sekunden bis Stunden wieder abklingen. Meist sind diese Attacken mit starker Übelkeit verbunden. Wegen der räumlichen Nähe zum Hörorgan ist eine Hörminderung möglich.
Beim gutartigen plötzlich auftretenden Lagerungsschwindel (benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, BPPV) handelt es sich um eine der häufigsten Schwindelformen mit sekundenlangen Drehschwindelattacken, Übelkeit und einer kurz dauernden Augenbewegungstörung. Ihm liegt eine Ablösung von winzigen Steinchen aus dem Innenohr zugrunde, die meist in den hinteren Bogengang fallen und bei schnellen Kopfbewegungen zu Schwindel führen.
Seltener liegt die Ursache in den an der Verarbeitung beteiligten Nervenzellen und -bahnen im Gehirn. Der hierdurch bedingte Schwindel ist meist ein mäßiger Dauerschwindel, auch die begleitende Übelkeit ist nicht sehr stark.
Eine Virusinfektion (vergleichbar einem grippalen Infekt) des Gleichgewichtsnervs, Neuritis vestibularis, führt zu einem Dauerdrehschwindel mit Übelkeit. Je nach Schwere der Infektion halten sich die Symptome bis zu drei Wochen. In der Regel heilt dieser Infekt folgenlos ab.
Beim Schwankschwindel hat man das Gefühl, als ob der Boden unter den Füßen schwanke, etwa wie auf einem Boot. Eine häufige Erkrankung ist der phobische Schwankschwindel, bei dem eine angstbesetzte Auslösesituation ausfindig gemacht werden kann. Beim Liftschwindel meint der Betroffene, sich wie in einem Aufzug nach oben oder unten zu bewegen. Er kann keiner einheitlichen Ursache zugeschrieben werden.
Benommenheitsschwindel (unsystematischer Schwindel) hingegen ist nur schwer zu beschreiben. Meist sagen die Patienten, ihnen sei „schummrig“ im Kopf, sie fühlten sich unsicher auf den Beinen und taumelig. Die Ursache für Benommenheitsschwindel liegt in aller Regel nicht im Gleichgewichtssystem. Schlechtes Sehen oder Nervenschäden mit beeinträchtigter Tastempfindung in der Haut z. B. führen zu nicht passenden Meldungen an das Gehirn, Blutdruckabfall bei gestörter Kreislaufregulation oder Herzrhythmusstörungen zu einer gestörten Informationsverarbeitung im Gehirn. Auch Medikamente, allen voran Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie (überdosierte) Medikamente gegen zu hohen Blutdruck oder Epilepsie, können zu Müdigkeit, Benommenheit und damit auch Schwindel führen.
Selten kann sich ein Akustikusneurinom mit Schwindel als erstem Symptom äußern. Üblicherweise berichten die Patienten von einer einseitig zunehmenden Schwerhörigkeit und Tinnitus.
Leichte Übelkeit, Stand- und Gangunsicherheit (ohne Seitenbevorzugung) sowie Angst zu stürzen sind hingegen oft Folgen des Schwindels. Nur bei starker oder einseitiger Ausprägung (z. B. Fallneigung nur zu einer Seite) sind sie für die Diagnosefindung verwertbar.
Das macht der Arzt
Vom medizinischen Standpunkt gesehen ist Schwindel kaum jemals ein Notfall, und die hinter dem Schwindel steckende Erkrankung ist meist harmlos. Insbesondere Drehschwindel ist aber bei stärkerer Ausprägung so unangenehm, dass der Betroffene schon allein wegen des Leidensdrucks baldmöglichst den Arzt aufsucht. Auch jeder Schwindel, der im Alltag zu Stand- und Gangunsicherheit und damit zu Sturz- und Verletzungsgefahr führt, sollte zügig abgeklärt werden. Bis dahin sollte der Betroffene die Auslöser des Schwindels meiden, sich im Schwindelanfall festhalten oder sogar hinlegen und nicht Fahrrad oder Auto fahren.
Sondertext: Antivertiginosa – Medikamente gegen Schwindel
Diagnosesicherung. Da die Ursachenzuordnung bisweilen eine echte Herausforderung für den Arzt darstellt, wird die Differenzialdiagnose sehr ausführlich im Krankheitsfinder beschrieben,abhängig von weiteren Symptomen in den entsprechenden Tabellen. Die diagnostischen Maßnahmen hängen von der vermuteten Ursache ab, ein typisches Programm umfasst z. B. eine neurologische und HNO-ärztliche Untersuchung (letztere besonders bei Drehschwindel), einen Schellong-Test (zum Ausschluss oder Nachweis einer Blutdruckregulationsstörung), ein Langzeit-EKG (zum Ausschluss von Herzrhythmusstörungen), eine Dopplersonografie der Hirnarterien (um Verengungen als Ursache kurzzeitiger Unterbrechungen der Gehirndurchblutung auszuschließen), gegebenenfalls ein Kernspin (zum Ausschluss eines Tumors) und verschiedene Bluttests.
Therapie. Die Behandlung des Schwindels ist ursachenabhängig:
- Feststellbare Grunderkrankungen wie etwa Herzrhythmusstörungen werden immer behandelt.
- In seiner Wirkung vielfach unterschätzt wird das Gang- und Gleichgewichtstraining. Beim gutartigen plötzlich auftretenden Lagerungsschwindel z. B. steht es als Lagerungstraining ganz im Vordergrund, aber auch bei anderen Ursachen des Schwindels kann Training die Beschwerden wesentlich bessern. Nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht“ lernt das Gehirn, die (widersprüchlichen) Informationen neu zu verrechnen und korrigiert den Schwindel so selbst. Die verständliche und als Erstmaßnahme aus Sicherheitsgründen durchaus richtige Haltung, sich hinzulegen und zu schonen, vermeidet den Schwindel zwar zunächst einmal, wirkt sich aber auf Dauer ungünstig aus. Einzelheiten, welche Übungen am besten geeignet sind, finden Sie beim jeweiligen Krankheitsbild.
- Manchmal ist Schwindel psychisch oder psychosomatisch bedingt oder ein organischer Schwindel wird durch psychische Faktoren verfestigt (Angst vor dem nächsten Schwindelanfall). Hier muss (zusätzlich) die psychische Störung behandelt werden, etwa durch eine Verhaltenstherapie.
- Medikamente gegen Schwindel, Antivertiginosa genannt, sollten nur bei heftigem Drehschwindel mit Übelkeit kurzzeitig eingesetzt werden, bis die quälende Übelkeit abgeklungen ist, z. B bei der Neuritis vestibularis.
Als Erstlinien-Therapie hat sich in internationalen Studien die Fixkombination der Wirkstoffe Cinnarizin und Dimenhydrat gegenüber allen Vergleichssubstanzen durchgesetzt. Die Substanzen wirken zusammen erheblich besser als als Einzelmedikament. Das Kombipräparat bessert sowohl zentral- als auch peripher-vestibuläre Störungen. Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Herzrasen und Schwitzen klingen schon nach kurzer Zeit ab, was die Fixkombination verträglicher macht als die alternativen Medikamente. - Bei älteren Menschen, bei denen der Arzt häufig keine eindeutige Ursache des Schwindels feststellen kann, werden alle möglicherweise beteiligten Störfaktoren angegangen, auch wenn jeder für sich alleine nicht ausreicht, den Schwindel zu erklären. Gleichzeitig wird durch Hilfsmittel wie etwa Gehhilfen und Haltemöglichkeiten im häuslichen Umfeld versucht, die Sturzgefahr zu mindern, damit der ältere Mensch mobil bleiben kann. Physiotherapie und Trainingsprogramme haben einen (mindestens) genauso hohen Stellenwert wie bei jüngeren Menschen, erfordern aber nicht selten erhebliche Motivationsarbeit.